Schreibworkshop mit dem Jugendautor Manfred Theisen

Es ist schön, wenn sich Räume für ästhetische Bildung und Kreativität im schulischen Kontext öffnen. Einen solchen Raum konnten Schülerinnen und Schüler zusammen mit dem Jugendbuchautor Manfred Theisen im Rahmen eines zweitägigen Schreibworkshops betreten und durchwandern: Viele eigene Texte entstanden dabei, die mithilfe von Schreibimpulsen durch den Autor überarbeitet wurden: Intensive Wortschatzarbeit und Sprachverdichtung u.a. ließen gelungene Schreibprodukte entstehen. Diesen Prozess mitzuerleben, war für viele Schülerinnen und Schüler ein Erfolgserlebnis.


Ellie
(von Duaa Alismail)

Es geht jetzt schon wieder los, immer dasselbe, schon seit Monaten passiert ständig das Gleiche. Zuerst bekommt meine Schwester eine Nachricht, verschwindet dann so schnell wie das Licht in ihr Zimmer und telefoniert mit jemandem, doch davor schließt sie noch die Tür mit dem Schlüssel ab, etwas merkwürdig …. nicht wahr? Doch unseren Eltern fiel es irgendwie nicht auf. Es waren bestimmt immer zwei Stunden, in denen sie in ihrem Zimmer telefonierte.
Jedes Mal, als ich meine Mutter darauf ansprach, meinte sie, dass meine Schwester bestimmt mit Freundinnen telefoniert, aber ob das wirklich stimmt? Da war ich anderer Meinung, denn ich habe da so ein seltsames Gefühl. Ein Gefühl, das mich schon seit Wochen verfolgt und nicht loslassen will, ein Gefühl, das mir ständig einreden will, oder besser gesagt mir schon dauernd einredet, dass da irgendwas an der Sache faul ist.

Auf dem Weg zum Bus überlegte ich morgens, was ich diesen Nachmittag noch machen sollte, außer meine Hausaufgaben erledigen. ,,Hey Ellie, hättest du Lust heute Nachmittag mit den Mädels und mir noch shoppen zu gehen?“, fragte mich Leah, die gerade neben mir ging. Für einen Moment dachte ich nach, doch heute war mir nicht nach shoppen.
,,Ne, aber trotzdem danke für die Nachfrage“, antwortete ich.
Leah ist meine beste Freundin, ein nettes Mädchen, aber sie kann manchmal total bekloppt sein und ihre Reaktionszeit ist langsam, trotzdem habe ich sie sehr lieb, auch wenn sie in der Schule und ganz besonders in Mathe überhaupt keine Hilfe ist. Nach der Schule nahm ich den Bus nach Hause, auf der Fahrt hörte ich Musik und las ein Buch. Um viertel nach zwei war ich zu Hause, wo das Mittagessen schon auf dem Tisch stand.
Als ich mich zu Tisch setzte, war außer mir und meiner Mutter niemand da.
Mum: „Und wie war heute der Schule, Ellie?“
Ich: „Okay.“
Es ist das übliche: Meine Mutter fragt mich, wie die Schule war, und ich antwortete wie immer mit einem „Okay“.
Ich: „Wo sind Dad und Rose?“
Mum: „Dein Vater arbeitet heute länger und deine Schwester ist mit Freunden in der Stadt.“


Das Geheimnis des Ozeans
(von Leni Lorscheider)

Kapitel 1: Großbritannien
Gerade als ich so schön träumte, riss mich mein Wecker aus dem Schlaf. Müde schaltete ich ihn aus und wollte mich wieder in mein warmes Bett legen, als mein Vater in mein Zimmer kam. Yunai, komm steh auf, wir wollen doch gleich losfahren. Du hast 10 Minuten Zeit um dich umzuziehen.“
Sofort war ich hellwach. Das hatte ich ja ganz vergessen! Um es kurz zu erklären: Heute wollen wir in meine alte Heimat Großbritannien zu meiner Tante an den atlantischen Ozean fliegen und dort einen dreiwöchigen Urlaub verbringen.

So jetzt stellt ich mich aber erst Mal vor. Mein Name ist Yunai Smith. Ich bin 15 Jahre alt. Ich habe azurblaue Haare und grüne Augen und sehe meinen Eltern überhaupt nicht ähnlich. Ich habe noch drei Geschwister. Zwei kleine Schwestern, die Zwillinge sind und Zoe und Marleen heißen, wobei Marleen lieber Mary genannt wird. Sie haben beide blonde Haare und blaue Augen und ihr Gesichter sind mit Sommersprossen übersät. Und einen großen Bruder namens Henry. Er hat schwarze Haare und grüne Augen und ist jetzt 17. Meine Eltern heißen Mike und Jessica Smith.

In Windeseile hatte ich mich angezogen und die Haare gekämmt, die ich zu einem Pferdeschwanz band. Dann lief ich die Wendeltreppe hinunter in die Küche, in der meine Familie saß und frühstückte.
,,Bist du auch endlich Mal unten?“, fragte mich mein Bruder grinsend. Ich verdrehte nur die Augen und setzte mich neben meine Mutter.

Nach dem Frühstück fuhren wir los zum Flughafen. Dort angekommen, holten wir unser Gepäck, beeilten uns und saßen bald schon im Flugzeug. Kaum gestartet verschwand ich ins Land der Träume.
Ein paar Stunden später weckte mich mein Vater und sagte, dass wir da seien. Ich holte meinen Koffer, und musste mich beeilen, denn ich war die letzte im Flieger. Ich rannte din Gangway hinunter auf den Parkplatz. Es regnete. Ich stellte meinen Koffer ab und drehte mich lachend im Kreis. Endlich waren wir da!
Mein Bruder rief: „Komm jetzt, Yunai, Tante Emma, Onkel Harry und unser geliebter Cousine warten. Wir können uns später freuen.“
Sofort war ich an seiner Seite und hielt Ausschau nach ihnen: ,,Los geht’s!“
Da liefen meine Schwestern schon los. Ich sah ihnen nach und entdeckte meinen Onkel, meine Cousin und meine Tante, der ich ebenfalls entgegenrannte und in die Arme sprang. Dann umarmte ich noch meinen Onkel, aber meinem Cousin schenkte ich bloß ein Lächeln. Unser Verhältnis war noch nie gut gewesen.
Meinem Bruder und er waren hingegen beste Kumpels. Sie begrüßten sich innig und redeten direkt über Fußball, ihr nächstes Date oder irgendwelchen Blödsinn.
Mein Onkel fragte mich: ,,Hey Darling, wie geht’s dir? Wie war dein achtes Schuljahr?“
„Gut, Onkel Harry. Anstrengend, aber es hat sich gelohnt? Ich bin Klassenbeste geworden!“, antwortete ich stolz.
„Und was ist mit deinen Geschwistern?“
„Zoe und Mary kommen jetzt in die zweite Klasse, sie hatten sehr viel Spaß und sind gut in der Schule. Henry macht jetzt Abi. Ich hätte echt nicht erwartet, dass er so weit kommt!“ Den letzten Satz sagte ich extra laut, sodass ihn mein Bruder hören könnte. Er streckte mir die Zunge raus und sagte: „Und ich hatte nicht gedacht, dass du mitkommst. So wie du schläfst. Du sabberst und redest übrigens im Schlaf.“ Er setzte sich mit Kamon ins Auto.
Mein Onkel lachte nur und meine Tante hat vom dem nichts mitbekommen, da sie mit meinen Eltern in ein hochinteressantes Gespräch über Besteck verwickelt würde.
„Onkel Harry, Onkel Harry! Nimmst du mich auf deinen Arm?“, fragte Mary ihn mit einem Hundeblick, dem er nicht wiederstehen konnte.
„Na gut komm her.“
Mary jubelte und strich ihm durchs Haar.
Ein paar Minuten später stiegen alle ins Auto.

Kapitel 2: Der Unfall
Als wir losfuhren waren wir bester Laune, sangen zu den Liedern im Radio – auch wenn nicht wirklich schön – und lachten über irgendwelche dummen Dinge. Niemand achtete wirklich auf die unbefahrene Straße auf der nur wir führen, auch wenn es etwas gefährlich war, da die Straße am Rande einer Klippe entlang verlief. Die Atmosphäre war so entspannt, dass ich mich wie zu Hause fühlte. Der Regen hatte sich inzwischen verstärkt und die Sicht wurde schlechter. Nicht Mal mehr den wunderschönen Ozean konnte man richtig erkennen. Mein Onkel war das egal, er ließ sogar das Lenkrad los, klatschte zur Musik, sodass wir schon auf der anderen Fahrbahn waren, die nah an der Klippe war. Ich hatte Panik, sprach Kamon seinen Vater an, der zog das Lenkrad nach rechts, was dazu führte, dass der Wagen abrupt die Richtung wechselte und gegen die Wand der Klippe raste. Der Aufprall war so hart, dass meine Tante, die nicht angeschnallt auf dem Beifahrersitz saß, durch das Fenster gegen die Wand flog. Reglos blieb sie liegen.
Geschockt starrte ich auf die Stelle, an der meine Tante lag. Wir stiegen aus dem Auto, meine Mutter schrie und mein Vater rief sofort den Krankenwagen, während mein Onkel versuchte, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen – und schließlich mit der Wiederbelebung begann. Henry und Kamon versuchten Mum zu beruhigen, meine Schwestern weinten und ich? Ich bekam das alles nicht wirklich mit. Es war so als wäre ich in eine Schockstarre gefallen. Ein paar Minuten später kam der Krankenwagen und die Polizei. Die Sanitäter kümmerten sich um Tante Emma, meine Eltern erzählten der Polizei vom Unfall. Dann kam ein Sanitäter zu meinem Onkel und sagte: „Wir müssen sie sofort mit ins Krankenhaus nehmen und operieren.“
Mein Onkel nickte nur und stieg in den Krankenwagen und ich weinte.
Meine Mutter sagte : „Die Polizei bringt uns jetzt zum Haus deiner Tante, hol dein Gepäck.“
Wir stiegen ins Polizeiauto, das uns zum Rosewood-Anwesen unserer Tante und unseres Onkels fuhr – mein altes Zuhause. Auf der Fahrt war es still. Niemand sprach ein Wort. Am Haus angekommen, rannte ich sofort auf mein Zimmer. Mein Bruder Reid rief noch „Warte!“, aber ich ignorierte ihn und warf mich aufs Bett. Wird sie sterben oder überleben? Der Gedanke ging mir durch den Kopf, bis ich irgendwann einschlief. Kurz bevor sich mein Bewusstsein ganz von mir verabschiedete, hörte ich noch ein leises Rauschen als sei es der Ozean, dann rief jemand: „Yunai, komm zu mir.“ Und ich schlief ein.


Zwei Gesichter
(von Maja Bozanovic)

30. Juni, Samstag
Ich spielte wie jeden Tag Minecraft im Stream.
Schon wieder ein Win. Nach der dritten Runde hatte ich nun auch keine Lust mehr. Immer das gleiche, dachte ich mir, ich brauche unbedingt jemanden, der mit mir spielt. Ich verabschiedete mich von meinen Zuschauern und schaltete meinen PC aus.
Sofort nahm ich mein Handy und schrieb auf Instagram: „Hey, eure Paula ist hier, ich suche eine kleine Streamerin, die Lust hat mit mir zu zocken.“
Ich legte mein Handy weg. Jetzt hieß es warten. Schon nach fünf Minuten bekam ich eine Antwort von einer Anja. Sie schrieb: „Hallo Paula, ich heiße Anja und spiele gerne Fall Guys, Minecraft und Raft:)“
„Mh, Anja … komischer Name. Naja, egal“, sagte ich.
Ich tippte auf mein Handy: „Hey Anja, hättest du Lust heute Abend zu zocken?“
Ich schickte die Nachricht ab.
Nun musste ich mich aber um meine Hausaufgaben kümmern. Frau Weber musste uns unbedingt noch Zusatz-Hausaufgaben aufgeben. Ich setzte mich gelangweilt an meinen Schreibtisch und packte meine Deutschhausaufgaben aus. Wir sollten eine Geschichte über unser tollstes Erlebnis schreiben.
„Oh man, Deutsch ist echt nicht mein Fach“, sagte ich und schob mein Heft beiseite. Ich fing an zu träumen als mich plötzlich ein lautes „Bing!“ aus meinen Gedanken riss. Mein Handy! Eine Nachricht von Anja. Sie kann um 16 Uhr zocken. Das ist ja in fünf Minuten! Hatte ich etwa so lange an meinem Schreibtisch gesessen?
Schnell setzte ich mich an meinen PC und schaltete ihn an. Anja trat mir bei.
Ihre Stimme war verzerrt und hörte sich komisch an. Naja, wird wohl nichts Schlimmes sein‚ vielleicht liegt es an ihrem Mikrofon. Wir spielten.
2 Stunden später
Ich hörte auf, da meine Finger schon wehtaten.
„Was! Schon 18 Uhr! Ich habe meine Hausaufgaben ja noch gar nicht gemacht.“
Ich war viel zu müde und legte mich schlafen.

5. Juli, Donnerstag
Anja und ich waren nun schon seit sechs Tagen befreundet.
Sie ist 16 und wohnt ein paar Dörfer weiter.
Anja ist bis jetzt die einzige Freundin, die ich habe, seitdem wir umgezogen sind. Wir wollten uns morgen treffen, so hatten wir es jedenfalls ausgemacht.
„PAULA!“, schrie mein nerviger Bruder. Wütend stürmte er in mein Zimmer. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Finger von meinen Sachen lassen, jetzt gib mir mein Ladekabel!“
„Ich habe dein doofes Ladekabel nicht und jetzt geh!“, erwiderte ich genervt.
„Da liegt es doch, du blinde Kuh“, sagte mein Bruder und zeigte drauf.
Tatsächlich, dort lag sein Ladekabel. Ich nahm das Kabel und drückte es ihm in die Hand. Die Tür machte er wie immer nicht zu.
Ich ging die Treppen runter in die Küche. Durch den Türspalt sah ich wie meine Eltern sich stritten. Mal wieder. Ich nahm mir eine Pfanne aus dem Schrank und kochte drauf los. Heute machte ich mein Lieblingsessen: Nudeln.
Plötzlich hörte ich ein lautes Knallen, dann wurde es still….

Kapitel 2
Ein lautes „Hilfe“ von meinem Vater ertönte. Ich ließ alles stehen und rannte zur Treppe. Meine Mutter war von der Treppe gestürzt und lag regungslos in den Armen meines Vaters. Ich erkannte, was los war und nahm mein Handy aus der Hosentasche. Schnell wählte ich 112, ich sagte der Frau am Telefon was passiert war und fünf Minuten später traf der Krankenwagen ein. Währenddessen saß ich schon längst in meinem Zimmer, im Moment war mir alles zu viel. Ich brach in Tränen aus. Mein Bruder kam in mein Zimmer und setzte sich neben mich, er legte seinen Arm um mich.
Wow, so nett war er schon lange nicht mehr, dachte ich.
Ich genoss die Stille.
„Ich muss Anja absagen“, sagte ich zu meinem Bruder. Ich war viel zu erschöpft.
„Tu das“, sagte er und gab mir mein Handy. Ich ging auf Instagram und schrieb: „Hallo Anja, ich muss leider Absagen, mir geht es im Moment nicht so gut, ich hoffe, du verstehst das.“
Nervös schickte ich die Nachricht ab.
„Was ist, wenn sie sauer ist?“, sagte ich und drehte mich zu meinem Bruder.
„Dann ist sie halt sauer, wenn sie es nicht versteht, ist das ihre Schuld.“ Er stand auf und ging.
Diesmal machte er meine Tür zu.
„Bing!“, ertönte es wenige Minuten später.
Ein Beitrag von Anja, sie markierte mich darunter.
Oh nein, das sah gar nicht gut aus. Sie war sauer und schrieb: „Paula ist untreu, und sagt mir, mit beleidigten Worten ab, obwohl ich nichts getan habe!“ Darüber war ein Bild von unserem Chat, in dem ich sie angeblich beleidigt hatte.
„Aber das habe ich doch gar nicht so geschrieben!“ Anja hatte es gefotoshoppt. Ich verlor in wenigen Minuten 100 Follower. „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ Schon wieder verlor ich 100 Follower. Wütend warf ich mein Handy auf meinen Sessel, legte mich aufs Bett und kuschelte mich in die Decke. „Ich brauche eine Runde Schlaf“, sagte ich.

9 Juli, Montag
Es ging nun schon vier Tage lang. Anja postete mehr und mehr Beiträge, in denen sie mich grundlos runter machte. Ich hatte bereits 600 Follower verloren. „Das muss aufhören. Hätte ich mich lieber nie mit ihr angefreundet!“, sagte ich verzweifelt.
Normalerweise frage ich meinen Bruder um Rat, doch diesmal hatte er selbst keine Ahnung. Er sagte nur: „Es wäre besser, wenn du Instagram löschst.“
Darauf habe ich aber keine Lust. Dann müsste ich ja später von Neuem anfangen. „Auf keinen Fall!“, sagte ich aufgebracht.
Auf ganz Instagram gingen Fake-Nachrichten von mir rum. Ich wollte mit meinen Eltern darüber reden, sie hatten aber keine Zeit für mich.
Meine Mutter lag immer noch mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus und mein Vater besuchte sie gerade. Es gab keine andere Lösung. Zögernd nahm ich mein Handy und löschte meinen Account.
„Das wars“, sagte ich traurig.


Das Fach
(von Marie Vogt)

1. Kapitel
„Dara, beeile dich! Du wirst noch zu spät kommen!“
„Ja, ja, ich bin ja schon unterwegs, Oma!“, rief ich zurück. Gelogen. Ich war noch nicht einmal aufgestanden, geschweige denn fertig für die Schule. Ich schloss den Chat mit Jojo und sprang aus dem Bett. Schnell zog ich mich an und schnappte mir meinen Ranzen. Aus der Küche im Erdgeschoss hörte ich meine Großmutter schimpfen: „Nein, nein, verschwindet, ihr Biester!“
„Mit wem redest du?“, fragte ich nach unten, während ich vergeblich versuchte meine lange rotbraune Mähne in den Griff zu bekommen. Sei’s drum. Jede Art von Frisur löste sich auf meinen Kopf nach zehn Minuten ohnehin wieder in Chaos auf.
„Nichts, mein Kind.“
Na, wie sie meinte. Meine Großmutter wurde wohl langsam alt und ein bisschen wunderlich. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – hatte ich sie so lieb. Ihr Mann war verschwunden, als mein Vater gerade einmal neun Jahre alt gewesen war. Er selbst war mit meiner Mutter kurz nach meiner Geburt bei einem Autounfall gestorben. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an die beiden und vermisste sie auch nicht. Andere Verwandte besaßen wir keine.
Es klingelte.
„Ich geh schon!“
Ich lief die Treppe hinunter.
Vor der Tür stand mein bester Freund Jojo und grinste mich an.
„Morgen, Schlafmütze. Lass mich raten: Du bist erst vor fünf Minuten aufgestanden?“
Ja, dieser Typ kannte mich definitiv zu gut. Was in Anbetracht der Tatsache, dass wir unser ganzes Leben miteinander verbracht hatten, auch kein Wunder war.
„Vollkommen korrekt. Wohingegen du schon seit fünf Uhr quietschfidel bist, und die Zeit genutzt hast, um deine arme Familie in den Wahnsinn zu treiben.“
„… und meine Nase in Stolz und Vorurteil zu stecken.“
Jojo war ein geradezu unglaubwürdig früher Frühaufsteher. Es war so ungerecht. Ich kam um sieben immer noch nicht aus dem Bett, und Jojo wachte zwei Stunden früher einfach von selbst auf und war den restlichen Tag über nicht einmal müde. „Endlich entdeckst du deine Liebe zu Klassikern. Ich bin übrigens fertig.“
Ich verabschiedete mich von meiner Großmutter und zog die Tür hinter mir zu.
In der Schule saß ich neben Jojo. Es war eigentlich ein normaler Tag. Bis in der dritten Stunde die Sekretärin in den Klassenraum kam und mich in ihr Büro zitierte. Es handelte sich um einen ausgesprochen hässlichen Raum mit unbequemen Stühlen.
Ich musste an das letzte Mal denken, als ich hier gesessen hatte. Die Jungs hatten unter Jojos Regie den Stuhl unserer ungeliebten Religionslehrerin mit nassem Klopapier dekoriert und der Rektor wollte Zeugenaussagen. Doch diesmal hatte meines Wissens niemand etwas angestellt. Jetzt, wo es langsam Richtung Schulabschluss ging, waren wir mit Streichen vorsichtiger geworden.
Die Sekretärin blickte mich mitleidig an. „Dara Hunter? Das örtliche Krankenhaus hat angerufen. Deine Großmutter…“
Oh, mein Gott, nein. Meine Oma war im Krankenhaus? Sie misstraute seit jeher sämtlichen Ärzten und hätte niemals freiwillig eine Praxis betreten. Es musste etwas Schlimmes passiert sein. Sie war doch nicht … Nein. Das konnte nicht sein. Auf keinen Fall. Denk nicht mal daran, Dara.
„… liegt im Koma.“
Was? Ich kannte mich nicht mit Medizin aus, doch Koma war doch quasi die Vorstufe von Tod, oder? Das durfte nicht sein. Bitte nicht. Nicht meine einzige Verwandte, der einzige Mensch, der nicht verschwunden oder tot war.
„Ich muss zu ihr.“
„Das geht leider nicht. Eine erziehungsberechtigte Person muss dich abmelden. Du wirst zurück in den Unterricht gehen müssen.“ Wie in Trance folgte ich ihr ins Klassenzimmer zurück.
„Jojo!“, zischte ich. „Jojo! Ich muss hier raus. Ich erkläre dir später alles.“
Und er bewies, dass er der beste Freund der Welt war, indem er keine Fragen stellte, sondern sofort losjammerte. „Oh, Herr Schnabelbaum, mir geht es gar nicht gut. Ich glaube, mir wird schlecht. Kann ich kurz rausgehen?“
Unser Lehrer nickte abwesend. „Geh ruhig.“
Jojo stand auf und strauchelte. „Mir ist schwindelig. Kann Dara mich begleiten?“
„Ja, ja und nehmt etwas zu trinken mit. Wenn es nicht besser wird, dann musst du dich abholen lassen.“
Ich legte Jojo einen Arm um die Schultern und führte ihn aus dem Raum. Außer Sichtweite begann er zu grinsen. „Meine schauspielerischen Fähigkeiten werden echt immer besser.“
„Jojo, ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Meine Großmutter liegt im Krankenhaus. Im Koma! Wir müssen da hin.“ Ich hatte noch nie geschwänzt und war froh, dass Jojo mir zumindest das Gefühl gab, er wisse, was er da tue. Tatsächlich schafften wir es unbehelligt aus der Schule. Jojo versuchte unterwegs, mich zu beruhigen. Doch auch der wusste nicht so genau, wie ernst so ein Koma war, deshalb hatte ich immer noch Panik, als wir ankamen. Der Arzt aber erklärte mir, das Koma sei künstlich, damit sich der Körper besser erholte und überhaupt würde meine Oma wieder auf die Beine kommen. „Sie ist wohl die Treppe hinuntergestürzt. Glücklicherweise hat ihre Nachbarin das bemerkt und den Krankenwagen gerufen. Ihre Großmutter lässt Ihnen folgendes ausrichten, sie liebe Sie und dass sie unter dem losen Brett im Kleiderschrank nachsehen sollen. Außerdem die Worte: Traue niemandem und halte dich bedeckt. Was auch immer das heißen soll.“
Dann verschwand er, nicht ohne mir nochmal zu erklären, dass ich meine Großmutter nicht sehen könne, solange sie sich im Koma befand. Jojo brachte mich nach Hause.
Langsam wich die Angst aus meinem Körper und ich konnte wieder klar denken. „Jojo, hier stimmt etwas nicht. Warum soll ich niemandem trauen? Und was soll die Nummer mit dem Regalbrett?“
„Ich weiß es nicht. Was hat der Arzt nochmal gesagt, wie das passiert ist?“
„Sie ist die Treppe heruntergefallen…“
Das war mehr als unlogisch. Meine Großmutter hatte Rheuma in den Beinen, und sie konnte eigentlich keine Stufen mehr hochgehen. Wenn sie etwas von oben brauchte, bat sie mich oder jemand anderes es zu holen. Und ging sie doch einmal hinauf, dann nur mit Hilfe und so langsam, dass eigentlich nichts passierten konnte. Jojo schien ähnliches zu denken, denn er schüttelte ungläubig den Kopf. „Deine Oma doch nicht.“
„Und was machen wir jetzt?“
„Lass uns mal in den Schrank schauen.“
Obwohl es mir falsch vorkam, die Sachen meiner Großmutter zu durchsuchen, willigte ich ein.
„Wonach suchen wir eigentlich genau?“, fragte Jojo, als wir endlich das unterste Fach des Schrankes leergeräumt hatten. Ich rüttelte daran. Es bewegte sich tatsächlich! Vorsichtig hoben wir das Brett aus der Fassung. Darunter befand sich ein Hohlraum. „Ich glaube, hiernach“, sagte ich und zog eine braune Holzschatulle ans Tageslicht. Sie sah sehr alt aus, als gehörte sie in ein Museum übers Mittelalter und nicht in das Geheimfach im Schrank meiner Oma.
„Hoffentlich sind hier ein paar Antworten drin.“