Gedenken der Opfer der Reichspogromnacht in Wittlich

Am 09.11.2025, am Jahrestag der Reichspogromnacht 1938, versammelten sich Menschen auf dem Markplatz in Wittlich um einen mit Kerzen erleuchteten Davidstern, um an die Wittlicherinnen und Wittlicher zu denken, die während der NS-Zeit wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt, entrechtet, deportiert und getötet wurden. 

Auch unsere Schule beteiligte sich an diesem wichtigen Erinnern und an diesem Zeichen gegen Diskriminierung und Unmenschlichkeit durch das Vorlesen von Ausschnitten aus einem Interview mit dem Wittlicher Hans Ermann, das dieser als Überlebender der Schoa 1981 in der jüdischen Gemeinde in Dayton/Ohio gab. 

Hier die von Sophie und Felix vorgelesenen Ausschnitte aus dem Interview mit Hans Ermann, aus dessen Familie acht Menschen von den Nationalsozialisten getötet wurden:

„Die Beziehung zu meinen Klassenkameraden war so, dass wir uns gegenseitig zuhause besuchten. Wir machten unsere Hausaufgaben zusammen. Meine Freunde kamen zu uns und ich zu ihnen. Wir saßen zusammen, diskutierten und wir wussten über Jahre hinweg, dass der eine Jude, der andere Katholik ist. Da gab es keinerlei Animositäten. Die Beziehungen waren fast ideal. Ich war im Sportverein, wir spielten und dies schien mir das Normalste auf der Welt. So war es in unserer Region bis in die 1920er Jahre, als der Nationalsozialismus aufkam. Hin und wieder sahen wir in den Zeitungen Artikel über Vorfälle in Großstädten – aber das schien weit weg. 

Mein Vater war hundertprozentiger Deutscher. Er war im Ersten Weltkrieg, war ein Kriegsversehrter. Er war loyaler Bürger. Für ihn war es unvorstellbar, aus Deutschland wegzugehen. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen und wir Jüngeren ansprachen, nach Alternativen zu suchen – da dachten Leute wie mein Vater, dass dies alles eine zeitlich befristete Sache sei, die nicht lange andauern würde und dann alles wieder so würde wie zuvor. Meine Eltern waren auch politisch aktiv gewesen in Wittlich. Sie partizipierten am politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Leben. Mein Vater war auch im Gesangsverein und in der Freiwilligen Feuerwehr. Es war komplett harmonisch zwischen Juden und Nichtjuden, als ich in Wittlich aufwuchs. Bis zu den 1930er Jahren […].

Ich beendete meine Schulzeit drei Monate nach der Machtübernahme der NSDAP. In dieser Zeit gab es zwei Fraktionen in der Klasse: Die eine Hälfte war in der HJ, die andere bei den Pfadfindern. Bei allen Aktivitäten waren die zwei Gruppen getrennt. Ich überlegte, was ich nach der Schule tun sollte. Der Zugang zu den Universitäten war Juden ja nicht mehr erlaubt. Ich schrieb viele Briefe und war glücklich zu einem Vorbereitungskurs für Lehrer in Frankfurt zugelassen zu werden. Später war ich am jüdischen Lehrerseminar in Würzburg.  

In den Ferienzeiten besuchte ich meine Eltern in Wittlich. Die Segregation von Juden und Nichtjuden war dann schon spürbarer. Meine Eltern fühlten von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, dass ihre langjährigen guten Freunde von den Nationalsozialisten unter Druck gesetzt worden waren, die Freundschaft aufzugeben. Viele kamen und sagten, bisweilen unter Tränen, aber unmissverständlich, dass sie von bestimmten Personen abhängig wären und, um Nachteile zu vermeiden, die geschäftlichen Beziehungen aufgäben. So schränkte sich der Kreis der Freunde von Woche zu Woche und von Monat zu Monat immer weiter ein, bis sie schließlich gänzlich isoliert waren. Nur noch Nachbarn schauten, aus Angst allerdings heimlich, vorbei. In einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt, war diese Politik der Nazis einer allmählichen Separation merklich erfolgreich.  

Am 1. April 1933 wurde unser Geschäft offen boykottiert. Die Nazis hingen Plakate vor die Geschäfte oder schrieben Sprüche auf die Fenster: „Dies ist ein jüdisches Geschäft – kauft nicht bei Juden“. Das war eine schreckliche und aufrüttelnde Erfahrung. Nach einer Woche kehrte zwar wieder Normalität ein, aber immer weniger Kunden kamen in unseren Laden. Das Geschäft ging phasenweise rascher, bisweilen langsamer, aber stetig zurück, auch wenn manche heimlich durch die Hintertüre zum Kaufen eintraten. 1938 kam es dann endgültig zum Erliegen. Kleine, von Familien betriebene Läden wie der unsere mussten also gar nicht offiziell arisiert oder gleichgeschaltet werden wie die größeren. Zum Vergleich: Ein Cousin meiner Mutter war angesehener Arzt in Berlin, seine Frau und Kinder waren Nicht- oder sogenannte Halbjuden. Mit seiner Praxis ging es wegen seiner Religion ebenfalls immer mehr bergab. Er fühlte, dass er seinen Kindern im Weg stand. Er war über 50 Jahre alt und wollte, wie er mir sagte, nicht mehr von vorne beginnen. So beging er – wenige Tage, nachdem ich nach Palästina auswandern konnte,  Selbstmord […]. 

Ich verließ Wittlich im Sommer 1938, kurz vor dem Novemberpogrom. Von da an änderte sich alles sehr rasch. Meine Eltern durften noch einige Zeit in ihrem Haus wohnen, dann wurden alle Juden in Wittlich in den Deportationshäusern [in der Oberstraße] konzentriert – bis zum Abtransport. Meine Eltern wurden nach Theresienstadt deportiert. Ich bekam noch einige Briefe von ihnen von dort. Mein Vater war ausgebildeter Schneider, dadurch konnte er neben der harten Arbeit noch etwas dazu verdienen und zusätzliches Essen kaufen. Davon profitierte die Familie. 

Aber meine Mutter wurde krank und etwa ein halbes Jahr nach der Ankunft verstarb sie in Theresienstadt. Mein Vater überlebte sie um etwa anderthalb Jahre, er starb 1943. Eine Tante von mir überlebte das Lager, ging nach dem Krieg nach Holland zu ihrer Tochter und erzählte mir davon, wie meine Mutter und eine weitere Tante gestorben waren. [Moritz,] [d]er Bruder meines Vaters, wurde auch nach Theresienstadt verbracht – mit Frau und Kindern [Ricka und Rudolph]. Als das Kind getrennt werden sollte, blieb meine Tante bei ihm. Auch wenn das offensichtlich hieß, dass sie weiter [nach Auschwitz] deportiert wurden. Und das war gleichbedeutend mit dem gemeinsamen Ende ihres Lebens […].“ 

Herzlichen Dank Sophie Dietzen und Felix Waßmer für das Engagement für unsere Schule!

Text und Foto: SCU

Bilder aus dem Buch „Juden in Wittlich“ von Maria Wein-Mehs (Beitrag von Franz-Josef Schmit):