Annabelle, Ertu, Jasmin, Julia, Sophie: Herzlichen Glückwunsch!

Im Rahmen von Schreibworkshops an ausgewählten Schulen in Rheinland-Pfalz, u.a. bei uns während eines Workshops mit dem Schriftsteller Manfred Theisen, entstanden Texte, die einer Jury von Schriftstellern vorgelegt wurden. Die Gemeinschaftsarbeit von Ertu Aksakal (MSS 13) und Jasmin Appel (MSS 12) „16 vs.18“, zudem „Jeder hat hier seinen Platz“, ein Text von Julia Mös (MSS 12), wurden ausgewählt und in ein E-Book aufgenommen, auf dem nun die besten Texte der Workshops von 2015 nachzulesen sind. Unter dem folgenden Link http://www.little-artur.de/ebook.htm können sie auch heruntergeladen werden.
Ertu und Jasmin haben mit ihrem Text „16 vs.18“ zudem im Rahmen des „Landeswettbewerbs zur Förderung junger Schreibtalente in Rheinland-Pfalz“ die dortige Jury überzeugt. Ihr Text wird nun zusammen mit den Texten von Annabelle (Klasse 8A) und Sophie (MSS 12) und die anderer im Rahmen des Wettbewerbs ausgezeichneter junger Autorinnen und Autoren in eine Anthologie namens „Durchschrift“ aufgenommen, die am 06.07.2016 nachmittags einem breiteren Publikum im Beisein von Ministerin Vera Reiß im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur vorgestellt werden wird. Zudem erhalten Ertu und Jasmin als zwei der insgesamt fünf Hauptgewinner des Wettbewerbs ein persönliches einjähriges Mentorentraining zusammen mit der Jugendbuchautorin Annegret Held, um ihre Schreibfähigkeiten weiter zu verbessern.
Annabelle, Ertu, Jasmin, Julia und Sophie – herzlichen Glückwunsch!


Jeder hat hier seinen Platz

Jeder hatte seinen festen Platz, wusste, wo er sitzen sollte, sitzen durfte. Zielgerichtet steuerten die Schüler auf ihren Platz zu, kramten ihre Handys hervor, steckten sich die Kopfhörer in die Ohren oder begannen ihrem Sitznachbarn, die total aufregenden Neuigkeiten vom letzten Tag zu erzählen.

Ich verstand natürlich kein Wort, betrachtete aber gerne, wie sich ihre Münder kaum merklich bewegen, sie wie wild gestikulieren und diese seltsamen Laute zu Stande bringen. Seltsam waren sie, so fremd, so abgehackt, ich werde diese Sprache niemals lernen, dachte ich mir.

Natürlich gab es im Bus auch noch einige freie Plätze, schließlich war das hier das erste Dorf, das erste von vielen, wir werden noch über eine endlose Dreiviertelstunde unterwegs sein.

Ich stieg als letztes ein, ganz langsam, wollte selbstbewusst nach vorne blicken, schaffte es aber nicht, stolperte beinahe.

Schüchtern schaute ich ein Mädchen an, neben dem noch ein Platz frei war. Sie schien meinen Blick jedoch gar nicht wahrzunehmen, blickte selbstvergessen aus dem verstaubten Fenster. Ein paar Schritte weiter zeigte ich unbeholfen auf den freien Platz neben einem kleinen Jungen, dieser legte schnell und trotzig seinen Rucksack neben sich. Schließlich war ich im hinteren Bereich angekommen, der Busfahrer schrie etwas von „Alle hinsetzen“. Unsicher brachte ich ein paar Worte meines gebrochenen Französisch hervor und fragte ältere Kinder, ob ich mich zu ihnen setzen dürfte. „Nein, hier ist kein Platz für dich, setzte dich doch neben den da“, erwiderte ein Mädchen, das stark geschminkt war und ihr dickes Haar ganz kurz geschnitten hatte.

Sie zeigte auf einen Junge, er war weiß. Da gehörte ich hin. Er spielte irgendein Spiel mit seinem Handy, schien mich gar nicht zu bemerken. An seinen Armen konnte ich viele kleine Schnitte sehen.

Erleichtert, endlich einen Platz gefunden zu haben, setzte ich mich neben ihn, drückte meinen Rucksack an mich und unterdrückte die sich ansammelnden Tränen.

Der Junge blickte mich an, ich tat so, als würde ich das gar nicht wahrnehmen. Meine Gedanken wurden schließlich unterbrochen durch ein Klingelton. Verwirrt sah ich mich um, es war das Handy des Weißen neben mir. Der Song kam mir bekannt vor, letzten Sommer hatte ich ihn öfter mal im Radio gehört. Letzten Sommer, zu Hause, das ist schon so lange her.

„Was ist los, Mama?“ Diese Worte ließen mich aufhorchen, seit Wochen hatte ich niemand außer meiner Familie Deutsch reden hören. Hier in Mali sprechen alle Französisch, was ich nie gelernt hatte.

Direkt schoss das Blut durch meine Adern, gebannt beobachtete ich jede Regung seiner Gesichtsmuskeln, seiner vollen Lippen, die die mir so vertrauten Worte endlich aussprachen, denen ich gebannt lauschte. Mit Panik in der Stimme versuchte er seine Mutter zu beruhigen, die immer länger und aufgeregter am anderen Ende der Leitung redete. Nervös kaute der Junge an seinem rechten Daumen, das Nagelbett war schon so stark aufgerissen, das es blutete.

„Ja okay, ich komme. Ich beeile mich.“ Er legte hastig auf, bat mich mit einem flehenden Blick aufzustehen und ihn durchzulassen, er ging mit große schnellen Schritten nach vorne zum Busfahrer. Dieser stöhnte bald darauf genervt, hielt aber an und öffnete die Vordertür.

Dann ging alles ganz schnell. Ohne wirklich zu wissen, was ich tat, rannte ich ihm hinterher und fand mich schließlich mit dem fremden weißen Jungen auf der Straße.

Der Bus wirbelte viel Staub auf, als er wegfuhr und in der Steppenlandschaft verschwand.

Julia Mös


16 vs. 18

Ich darf mehrere Sachen. Aber was? Was für Sachen? In Diskos, Alkohol, ja auch Bier. Is ja Alkohol. Oder? Ne, Nahrungsmittel. Du bist noch nicht alt genug. Aber 16 immerhin! Nur noch zwei Jahre, Mama! Aber noch Schule. Streichelzoo. Servicekräfte Lehrer. Die müssen tun. Und ich tu so als ob ich zuhör. Ich bin nur in der Schule um anwesend zu sein. Kann ich gut. Körperlich! Versteht sich! Der Geist ist noch im Bett. Immer. Kein Wecker in Sicht. Ich will gar nicht geweckt werden. Du hast es gut. Ich bin immer der, der alle wecken muss. Meine Mutter, meine Schwester. Morgens Treppen ist nicht gut. Aber dafür kann ich Auto fahren. Und mit Zocken Geld verdienen. Mit 16 ist man immer arm. Und kann auch Auto fahren nur mit Mama. Auch für die Disko brauch ich Muttizettel. Für die „Kajüte“, ist die Disko hier in Binsfeld. Mit 18 nicht mehr. Und dann? Freiheit! Außer, wenn man Fahrer ist!

Und das bin ich gerade. Ich sitze am Steuer und du sitzt daneben. Du 16. Ich 18.

„Zusammen sind wir 34“, sage ich.

Sie lacht. Sie ist betrunken. Sie lacht über alles. Wir haben uns heute erst in der Schule kennen gelernt. Jetzt fragt ihr euch bestimmt: Wie kommt man von der Schule und landet am Ende in der Disko und betrunken im Wagen? Ganz einfach: Wir hatten einen Schreibworkshop. Und waren beide kreativ wie ein Stein. Und damit meine ich keinen Edelstein. Ich trage Brille. Sie trägt Brille. Manchmal braucht man nicht mehr um sich zu unterhalten. Dioptringespräche. Wieviel hast du? Ich hab minus sechs. Das ist viel, fast blind. Aber ich kann sie sehen. Sie sitzt jetzt neben mir und hat auch im Workshop neben mir gesessen. Wir haben über unsere Leistungskurse geredet. Lieblingsfächer. Lehrerlästern. Und dann sagt der Workshopleiter: Wenn ihr wollt, könnt ihr die Geschichte ja auch zuhause schreiben. „Gehst du heute Abend ins Kajen?“, fragte ich sie. Sie sagte: „Weiß nicht.“ Ich sagte: „Ich fahre hin, aber nicht zurück. Außer du willst, dass ich betrunken fahre.“ Sie sagte: „Lass uns erst mal fahren.“ Dann schaute sie auf die Uhr und sagte: „Es ist 17.10 Uhr. Das ist ein bisschen zu früh.“

Vorglühen, nenne ich so was. Sie will vorglühen.

Ich mache mit ihm einen Treffpunkt aus: 20 Uhr am Brunnen.

Ich gehe nach Hause. Niemand wartet da. Meine Mutter nicht, eine Katze haben wir nicht. Ich esse. Kochen kann ich nicht. Aber essen. Nudeln. Das ist das einzige, was ich kann. Ketchup. Aufräumen tu ich nicht. Nie. Ich bin Messi, meine Mutter nicht. Das ist ihr Problem. Sie räumt auf. Ich dusche lieber. Bin ich schon am duschen? Dann höre ich dabei normalerweise Musik. Wenn ich mit duschen fertig bin, schmink ich mich. Eyeliner, Kajal, klingt wie ein arabischer Vorname. Pushup. Brauch ich nicht. Alles Natur. Und dann stehe ich vor dem Spiegel und ich stehe auch vor dem Spiegel. Aber ich sehe einen Mann. Mich! Erstmal mich betrachten. Bizeps. Bowlingkugeln. Greife zur Hose. Wieder Bowlingkugeln. Ja, die riecht gut, die ziehe ich an. Meine Mutter ruft. Erdnüsse. Wenn nicht Rosinen. Ich soll eh mein Zimmer aufräumen. Sonst würde mich meine Mutter garantiert nicht rufen. Sie kommt, drückt mir das Telefon in die Hand und sagt: „Marie ist dran.“ Aber nicht mehr bei mir. Ich nehme trotzdem den Hörer und fange an zu husten. Warum? Weil ich krank bin. Ich kann heute nicht. Meine Mutter wundert sich: „Du gehst doch gleich“. Meine Freundin fragt wohin? Ins Bett. Ich bin krank. Genau wie meine Freundin. Genervt lege ich auf. Es ist schon spät. 19:30 Uhr, es ist nicht mehr lange. Ich betrachte mich noch einmal im Spiegel. Passt. Noch Deo, dann ist es perfekt. Fahre los. Sie wartet schon. Du musst Frauen immer warten lassen. „Steig ein!“

Vorglühen mit geschlossener Tür auf vier Rädern. In meinem Auto. Ich mein hier mit Vorglühen, dass sie vorglüht, nicht, dass ich was trinke. Ich trinke nie, wenn ich fahre. Meine Mutter würde das aufregen.

Ausweis. Peinlich. Muttizettel. Noch peinlicher. Immerhin bin ich jung. Hier sind einige zu alt, abgegriffen. Er muss auch Ausweis zeigen, aber ihm ist es nicht peinlich. Jetzt trinkt er. Ich hasse es. Aber er sieht gut aus. Ich hasse es auch, wenn Mädchen soviel saufen, weil die dann immer heulen. Und damit meine ich immer. Er sagt: „Ich gucke mal, wie viel ich trinken darf als Beifahrer.“ Ich sage „nichts“. Er lächelt. Süß. Wir tanzen, er auch. Gut. Sehr gut. Ein bisschen zu gut. Es wird getanzt und getrunken, getanzt und getrunken. Ich. Absturz.

Ich trag sie ins Auto. Ich hoffe, die kotzt da nicht rein. Meine Mutter würde das aufregen. Die müsste ja die Kotze wegmachen. Mir ist das zu ekelig. „Geht es noch?“, frage ich sie.

Sie liegt in meinem Arm. Ich trage sie auf den Beifahrersitz.

Und jetzt? Soll ich sie küssen? Soll ich das ausnutzen? Ich bin ein Idiot. Ich tue es nicht. Und deshalb sitzt sie jetzt neben mir, ich fahre, wir reden und reden.

„Ich bin 16. Du 18“, sagt sie.

„Zusammen sind wir 34“, sage ich.

Sie lacht. Ich schaue zu ihr rüber und will sie küssen und sehe die Scheinwerfer von diesem Laster. Reiße das Lenkrad rum und wir verschmelzen.

Jasmin Appel, Ertugrul Aksakal